Die Panik war greifbar, als das junge Paar den Zug absuchte, die Gesichter bleich vor Sorge. Ihre Tasche, mit Geldbörse, Bankkarten, Ausweisen und einer Flasche Wasser, war wie vom Erdboden verschluckt. Sie brauchten zwei Stunden um den richtigen Pendel-Zug wiederzufinden, aus dem sie gedankenlos ohne ihre Utensilien ausgestiegen waren. Sie durchkämmten Abteil für Abteil und hatten Schwierigkeiten in dem Doppel-Zug das richtige Abteil zu finden wo sie zuvor gesessen hatten. Doch dann, gegen alle Wahrscheinlichkeit, geschah etwas Unglaubliches. Ein Moment, der die oft beklagte Anonymität des öffentlichen Nahverkehrs widerlegte und eine Geschichte von unerwarteter Solidarität schrieb. Eine Geschichte, die mich, den eingefleischten Einsiedler-Autofahrer, mitten in meinem Selbstversuch ohne Auto und mit öffentlichem Nahverkehr, auf eine emotionale Achterbahnfahrt schickte.
Auto ohne Führerschein
Unabsichtlich ein einzelner km/h zu viel drüber reichte, um mich den Führerschein zu kosten. Vier Wochen mit einem elektrischen Traumauto in der Garage, aber ohne Fahrerlaubnis. Um 300€ Bußgeld ärmer ging es in ein spannendes Experiment. Nach 30 Jahren Individualmobilität endlich mal wieder den ÖPNV erleben.
Orientierungslosigkeit
Für die drei Wochen im März gönnte ich mir die Flatrate und kaufte ein Deutschland Ticket für 58€. Das ermöglichte mir für den Kalendermonat beliebig viele Fahrten in ganz Deutschland in allen Regionalzügen, S-Bahnen, U-Bahnen, Linienbussen und sogar meine geliebte Schwebebahn. Den Tarif-Dschungel aus verschiedenen Klassen, Ticketarten und Geltungsbereichen wollte ich mir bei meinen teils Verkehrsverbund-übergreifenden Fahrten erst einmal ersparen.
Es war so schon herausfordernd genug sich zurecht zu finden. Wo liegen die Haltestellen und wie heißen diese eigentlich, auf welcher Seite der Bahnhöfe geht es in die gewünschte Richtung und welche Linien haben was für einen Takt. Steigt man im Bus eigentlich vorne ein oder darf es auch hinten sein? Wie plant man geschickt eine Route über mehrere Verkehrssysteme um pünktlich am Ziel zu sein, wie viel zeitlichen Puffer sollte man üblicherweise einrechnen und woher soll man bitte wissen, dass am Hauptbahnhof Düsseldorf die Gleise der S-Bahn unten im Keller als U-Bahn fahren und nicht an den gleichen Gleisen wie oben die Regionalbahnen?
Die App des heimischen Verkehrsverbund (VRR) brachte ordentlich Erleichterung, sofern man einmal die Bedienung verstanden hat. Im Grunde simpel und komfortabel zugleich: Start-, Zielort und Start- oder Ankunftszeit eingeben und die App sucht automatisch passende Verbindungen heraus und bezieht dabei alle regionalen Schienen- und Buslinien ein, inklusive Laufzeiten, Wartezeiten und manchmal mit Anzeige von Verspätungen oder Ausfällen. Natürlich geriet ich während meines Sozialexperiments in den Streik der Gewerkschaft ver.di und fand mich trotz Ticket ein paar Tage zu Fuß unterwegs wieder oder gönnte mir einen Sharing-Elektro-Scooter, was sogar richtig Spaß machte, aber natürlich Extrakosten verursachte.
Zwischen 1. Klasse und gesenkter Sau
Für eine einzelne Fahrt von Wuppertal nach Köln probierte ich ein Zusatzticket für die erste Klasse, musste aber feststellen, dass bei Regionalzügen Preis-Leistung dafür in einem schlechten Verhältnis stehen. Der dort vorhandene Klapptisch war praktisch, aber keine 7€ wert, man zahlt nämlich im selben Zug doppelt dafür, sobald man die Grenze des Verkehrsverbundes überschreitet. Das lohnt sich nur bei extrem vollen Zugverbindungen für eine bessere Chance einen Sitzplatz zu ergattern.
Ein anderes Mal stand ich verzweifelt vor dem Linienbus im hinteren Bereich und der Knopf wollte die Türe nicht öffnen. Ein panischer Hechtmarsch entlang des großen Gelenkbus nach vorn brachte mir die gereizte Stimmung des Fahrer ein, die Haltestelle liegt in einer Außenkurve, wo es dem Fahrer nicht möglich ist das Heckteil im Außenspiegel zu sehen. So hatte er die Türe nicht zum Öffnen freigegeben. Klar, muss man wissen als Fahrgast!
Besonders auffällig war, dass Zugfahrer äusserst sanfte Gemüter haben, hier fährt es sich komfortabel, die Strecken holpern nicht und man sitzt oder steht recht entspannt. Busfahrer hingegen scheinen häufiger Rennsport-Gene ausleben zu wollen. Fahren so flott um die Kurven oder bremsen unnötig hart, dass ich regelmäßig Leute den Halt verlieren und sogar ältere Menschen stürzen gesehen habe. Gott sei Dank ist das immer gut ausgegangen, aber das muss echt nicht sein und fühlt sich hinten auch sitzend nicht angenehm an!
Großstadt-Takt und Umsteige-Orgien
Als Wuppertaler, immerhin 17. größte Stadt in Deutschland mit 350.000 Einwohnern und bei den diversen Fahrten in die Metropolen Köln und Düsseldorf, konnte ich mich über den Takt der Verbindungen nicht beschweren. Zwischen 5 und 20 Minuten war alles dabei, was bei den doch häufigeren Verspätungen schnell zu zu knappen Umsteigezeiten führt und man dann einfach auf den nächsten Takt warten konnte. Noch schlimmer war allerdings, dass mir regelmäßig Busse vor der Nase weggefahren sind, weil sie 1-2 Minuten früher abfuhren als auf dem Fahrplan stand.
Wartete ich dann mal auf einen Bus ungewöhnlich lange, wusste ich nicht, ob dieser nur ein paar Minuten zu spät dran war oder er sogar vor seiner Zeit ohne mich losgefahren war. Hier wäre großartig, wenn man die GPS Daten in der App anzeigen lassen könnte. Das würde Klarheit schaffen ob es sich lohnt zu warten oder doch zu Fuß zu laufen oder einen E-Scooter zu suchen um seinen Arzttermin noch zu erreichen.
Auch die diversen Verspätungen, Ausfälle und Gleis-Umplanungen der Bahn scheinen in den Apps gänzlich zu fehlen. Diese erfährt man meist nur in oft nahezu unverständlichen Durchsagen direkt am Gleis, nur um den gleich wieder loszusprinten von Gleis 1 zu Gleis 4 – zum Abgang hetzen, Treppe runterlaufen, die Gleise im Tunnel kreuzen und dann die Treppe wieder hochrennen. Fitness-Programm ist bei der Bahn also inklusive!
Wirklich unangenehm wird es allerdings, wenn man in die Nachtzeiten gerät. Plötzlich muss man vier mal umsteigen, wo nachmittags noch einmal gereicht hatte. Und schnell erhöht sich der Takt auf zwei Stunden oder gar erst den nächsten Morgen. Ebenso, wenn man in kleine Orte oder ländliche Gegenden fahren will, spätestens dann würde ich die weiße Fahne schwenken und Taxi fahren oder Freunde und Familie um Transporte anschnorren.

Furchtbar genial
Es mag verwirren, aber trotz allem habe ich die Zeit auch sehr genossen. Ich bin täglich im ÖPNV unterwegs gewesen und die meiste Zeit lief es tatsächlich rund. Es braucht nur vorausschauende Planung und ein paar Minuten mehr Puffer. Dafür bekommt man einiges zu sehen, lernt interessante Leute kennen, hört lustige Geschichten vom Sitznachbarn am Telefon und kann auch auch mal einfach die Gedanken schweifen lassen während am Fenster die Stadt und Landschaft vorbeizieht. Ganz ohne selbst mit der Rush-Hour kämpfen zu müssen.
Die längeren Fahrten habe ich eigentlich immer zum Arbeiten genutzt. Mails bearbeiten und Videos schneiden am iPad bin ich aus dem Café-Lifestyle gewohnt. Keinen Parkplatz ewig suchen und dann noch teuer bezahlen zu müssen, war ein regelrechter Segen. Überhaupt ist diese Form der Mobilität verlockend preiswert: Kein Auto bedeutet keine Inspektion, keine Winterreifen kaufen müssen, keine Reparaturen, keine Vollkasko-Versicherung im Januar bezahlen müssen und auchkeine Ladestationen mit zu teurem Strom suchen und bezahlen müssen. Neuerdings muss ich als Tesla Fahrer ja Angst um mein Auto haben, dank ÖPNV war der Termin im Kölner Linken-Viertel super entspannt, wusste ich das Auto doch sicher in der Garage Zuhause.
Die letzten 5 Tage meines Fahrverbotes lagen im neuen Kalendermonat, ein weiteres Monatsticket lohnte nicht. Super cool ist dafür das eezy.nrw Ticket: Man bucht sich in der App an einer Haltestelle ein und am Ziel wieder aus, die App berechnet anhand GPS automatisch den günstigsten Einzelfahrtticketpreis. Erreicht man über mehrere Fahrten hinweg die Grenze zum Tages- oder Monatsticket, stoppt die Berechnung entsprechend. Also flexibler und einfach gehts wirklich nicht!
Eine Liebeserklärung und ein Fazit
Während meiner eingangs erwähnten Fahrt, die sich unerwartet zu einem Logenplatz mit direkter Sicht auf die verlorene Tasche entwickelte, spielte sich ein kleines Drama ab. Ich beobachtete, wie Reisende unterschiedlichster Nationalitäten und Hintergründe die Tasche bemerkten, sie inspizierten, aber – fast ehrfürchtig – liegen ließen. Es gab sogar eine lebhafte Diskussion innerhalb einer Familie, ob man die Tasche nun dem Zugpersonal übergeben oder lieber an Ort und Stelle belassen sollte, in der Hoffnung, dass die Besitzer sie wiederfinden würden.
Die Erleichterung des Paares, als sie ihre Tasche endlich wieder in den Händen hielten, war riesig. Sie rekapitulierten die Erkenntnis: Offenbar hatten Diebe die Tasche unbemerkt entfernt, sie zwei Reihen weiter hinten durchsucht und dann zurückgelassen. Offensichtlich hatten die Langfinger vergeblich nach etwas gesucht, was gar nicht da war – Bargeld. Das Paar musste dann plötzlich lauthals lachen, als sie bemerkten, dass das Einzige, was die Langfinger mitgenommen hatten, die Flasche Wasser war. Offenbar war eine schnöde Wasserflasche für die Diebe interessanter als Kreditkarten und Ausweise. Ein humorvoller Beweis dafür, dass selbst in Momenten der Habgier und des Verlusts noch ein Funken Menschlichkeit übrigbleibt – oder vielleicht einfach nur Durst.
Überhaupt habe ich vieles erleben und beobachten dürfen, was mir bei all der negativen Presse der letzten Monate und Jahre Hoffnung gegeben hat. Friedliches nebeneinander, auch im dichtesten Gedränge. Rücksichtnahme auf ältere Menschen, Mütter mit Kinderwagen und regelrechte Multikulti-Harmonie. Busfahrer die extra noch kurz warteten, wenn sie jemanden heranlaufen sahen. Oder wie sich wildfremde Menschen in spontane, kurzweilige Gespräche miteinander verlieren. Ich gehe ernsthaft glücklich aus diesem Experiment, der ÖPNV ist nicht so schlecht wie sein Ruf und ich habe viel neues gelernt über Menschen und die Öffis. Die allermeisten Fahrten waren sogar rein elektrisch, bis auf einige Busse die noch auf Diesel bestehen. Aber das ist nur eine Frage der Zeit, dann haben auch die richtig Strombock.